Chorea Huntington ist eine Familienkrankheit
Neurologe: „Leben auch mit tödlicher Krankheit wertvoll“
Wien (pte) – Das Wissen um die Nervenkrankheit Chorea Huntington steigt bei Patienten und Angehörigen, was den Umgang mit dem Leiden wesentlich erleichtert. Das betont Raphael M. Bonelli, Vizepräsident der österreichischen Huntington Hilfe, die am 26. Juni an der Sigmund Freud Universität Wien ihren fünften Jahreskongress organisiert. Chorea Huntington ist ein seltenes Leiden, bei der Nervenzellen bestimmter Gehirnregionen aufgrund eines vererbten Gens zerstört werden. „In Österreich gibt es rund 400 Patienten, jedoch nur sehr wenige spezialisierte Zentren oder Ärzte“, so der Wiener Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut im pressetext-Interview.
Netzwerk treibt Forschung voran
Die Huntington-Krankheit (früher auch „Veitstanz“ genannt) ist unheilbar, wenn auch einzelne Mittel Symptome lindern können. So wurde etwa am Freitag der Vorwoche mit „Tetmodis“ der erste Dopaminmodulator mit der Substanz Tetrabenazin zugelassen. Von Sensationsmeldungen, dass man die Krankheit im Tierversuch verzögern oder aufhalten konnte, blieb aber nur bitterer Nachgeschmack, so Bonelli. „Bis jetzt zeigte sich stets, dass die verzögernde Wirkung beim Menschen nicht stattfindet.“ Immerhin wurde in den vergangenen fünf Jahren ein europaweites Netzwerk mit 6.000 Patienten geknüpft, dessen österreichische Zentren Bonelli koordiniert. „Das erleichtert Studien zur Wirksamkeit beim Menschen wesentlich.“
Die stets mit dem Tod endende Erkrankung bricht im Schnitt mit 40 Jahren aus, wobei der Verlauf bei Kindern nur wenige Jahre, bei fortgeschrittenem Alter bis zu zwei Jahrzehnte oder mehr dauert. Ihr Fortschreiten ist langsam, aber ständig. Es beginnt mit Störungen der Bewegung, wobei die Kontrolle der Extremitäten immer mehr entgleitet. „Außenstehende interpretieren das anfängliche Torkeln oft als Betrunkenheit. Später kommt es zu Sprech- und Schluckstörungen bis hin zu früher Demenz. Daneben verändert die Krankheit auch die Psyche eines Menschen und macht viele reizbar, enthemmt oder depressiv“, erklärt Bonelli.
Einsamkeit als Gefahr
Was die falsche Einschätzung durch Unwissen bedeutet, zeigt der Fall eines Patienten, der mit einer Spielzeugpistole eine Bank überfiel. Erst nach einem Jahr Gefängnis erkannte man, dass er an Chorea Huntington litt, und er kam frei. Weitaus häufiger vereinsamen Patienten jedoch, da das Umfeld ihren Wesenswandel nicht nachvollziehen kann. „Freunde von Erkrankten sind oft überfordert von der plötzlichen Aggressivität und wenden sich ab. Das erhöht die Isolation und Depressionsgefahr.“
Besonders günstig sei hingegen ein starker sozialer Rückhalt, betont Bonelli. „Oft begleiten auch Eltern, Kinder oder Geschwister den Patienten bei der neurologischen oder psychiatrischen Betreuung. Zunehmend gilt das Leiden als Familienunglück und frühere Tabus sind ausgeräumt, da die Betroffenen mehr über die Krankheit wissen. Dieser Zusammenhalt stärkt und beglückt, ganz nach der Regel ‚Geteiltes Leid ist halbes Leid‘.“ Eine wichtige Unterstützungsarbeit leisten hier auch Selbsthilfegruppen.
Gentest zeigt späteres Schicksal
Ein Familienthema ist Chorea Huntington auch deshalb, da sie eine Erbkrankheit ist. Jedes Kind eines Huntington-Gen-Trägers hat ein 50-prozentiges Risiko, das defekte Gen selbst zu besitzen, was automatisch eine spätere Erkrankung bedeutet. Menschen dieser Risikogruppe können ab dem 18. Lebensjahr einen Gentest durchführen, der Klarheit schafft ob das kranke Gen geerbt wurde oder nicht. „Die Entscheidung, ob der Test durchgeführt wird, liegt beim Einzelnen. Manche sagen, sie wollen sehenden Auges ihr Leben gestalten, andere vermeiden derart schlechte Nachrichten über das eigene Leben lieber.“
Leicht fällt dieser Gentest niemandem. „Besonders rund um das Testdatum ist die Suizidrate besonders hoch. Ein enger Kontakt mit einem Psychiater ist in dieser Zeit zu raten, da ein positives Ergebnis meist ein arger Schock ist“, erklärt der Spezialist. Im Laufe der Zeit gehe diese Gefahr zurück. „Die Genträger gewöhnen sich scheinbar allmählich an den Gedanken der Krankheit und stellen sich darauf ein. Das gelingt am ehesten durch eine stärkere transzendentale Ausrichtung des Lebens. Denn je mehr man am Zeitgeist hängt, desto unglücklicher macht es, wenn man Idealen wie Schönheit und Effizienz später nicht mehr entsprechen kann.“
Leben des Patienten ist wertvoll
Im NS-Regime wurden Menschen mit Chorea Huntington anfangs zwangssterilisert, später als „lebensunwertes Leben“ euthanasiert. Heute dürfe es keine Bevormundung geben, betont der Mediziner. „Auch heute leben Genträger 30, 40 oder manchmal 70 Jahre ohne Krankheit, und ihr Leben kann auch als Kranke sehr lebenswert sein. Grund für Abtreibung oder Euthanasie sehe ich absolut keinen.“ In der Praxis zeige sich, dass ein regelmäßiger Lebensrhythmus ohne Raubbau am Körper und geordnete Beziehungen ohne verzweifelte Abbrüche hilfreich sind. Diese Faktoren könnten laut Bonelli vielleicht sogar dazu beitragen, dass die Krankheit später ausbricht. Studien dazu gibt es allerdings noch nicht, räumt der Experte ein.
(Aussender: pressetext.austria, Redakteur: Johannes Pernsteiner)