Du bist nicht alleine...

Seltene Erkrankung – Was bedeutet das für den Alltag?

Seifenblasen, die hälftig und schillernd auf dem Boden in dunkler Umgebung aufliegen. In einer Seifenblase steht ein kahler Baum, in einer sitztein Jugenlicher mit hängendem Kopf, in einer steht ein trauriges weiß konturiertes Mädchen. Die Seifenblasen scheinen kaputt zu gehen... Glassplitter fliegen davon...

30 Punkte, die das Leben zusätzlich zur Krankheit zur Hölle machen können

Dass ein Alltag im Rollstuhl mit Spasmen und Krampfanfällen kein Zuckerlecken ist, kann sich wohl jeder vorstellen. Daneben gibt es aber viele Punkte, die unabhängig von der Schwere der Erkrankung nahezu jeden betreffen, der von einer seltenen Erkrankung betroffen ist.

Nachfolgende ungeordnete Liste haben unsere Forenmitglieder in den letzten Jahren zusammengetragen:

  1. Bis man bei einem Arzt gelandet ist, der das Krankheitsbild kennt, dauert es mitunter ewig.
  2. Nicht selten wird man als Betroffene/r ohne Diagnose vom behandelnden Arzt und auch von Familie, Freunden und Arbeitskollegen über Jahre als Psychosomatiker oder Simulant abgestempelt.
  3. Wenn man keinen Arzt in der Nähe hat, der sich mit der Krankheit auskennt, muss man mühsamst alle Informationen selbst zusammentragen und dafür gegebenenfalls noch Englisch und medizinisches Fach-Chinesisch lernen.
  4. Dann steht man mit der selbst zusammengestellten Info-Mappe im Regen und sucht nach einem Arzt, der das selbst erlangte Wissen anerkennt und bereit ist, sich weitergehend schlau zu machen.
  5. Spezielle Selbsthilfegruppen gibt es so gut wie nicht.
  6. Es gibt auch keine Bücher darüber.
  7. Selbst im Internet sucht man oft vergeblich nach Informationen.
  8. Gibt es Informationen im Internet, sind diese oft nur schwer verständlich.
  9. Jedem neuen Arzt und auch allen anderen Menschen muss man beständig alles wieder von A – Z erzählen.
  10. Auch muss man das Wissen eines Arztes viel mehr hinterfragen als normal. Mitunter wird das Nicht-Wissen des Arztes so in Fach-Chinesisch verpackt, dass sich für den Laien alles ganz logisch anhört.
  11. Dass ärztliche Auskünfte nicht vollständig oder evtentuell nicht ganz richtig waren, merkt man oft erst, nachdem man sich eine Zweit- und Drittmeinung eingeholt hat.
  12. Viele Betroffene gehen ungern in Universitätskliniken, denn es kann passieren, dass man mit seiner Symptomatik wiederholt den Studenten vorgeführt wird und viele Hörsäle von innen kennenlernt.
  13. Therapien, ob z.B. medikamentös oder chirurgisch, sind mitunter wenig erprobt.
  14. Häufig gibt es sogar gar keine Medikamente oder Therapien.
  15. Wenn es eine Therapie oder Medikamente gibt, geht es oft nur um Linderung der Symptome und die Wirkung hält häufig nur kurze Zeit an.
  16. Oft wird man einfach „irgendwie“ behandelt. Nicht selten verschlimmert sich die Symptomatik dadurch. Manchmal hilft es aber auch eine Zeit lang. Danach wird etwas Neues ausprobiert.
  17. Nach Jahren mit unterschiedlichen Behandlungsversuchen weiß man, wie sich ein Versuchskaninchen fühlt. Der Grad der Frustration und die gefühlte Verzweiflung sind dann unendlich groß.
  18. Wenn man dann noch zusätzlich etwas Alltägliches hat, z.B. einen kaputten Zahn oder eine Rückenproblematik, dann weiß der Zahn- oder Hausarzt ggf. nicht, welche Aus- oder Wechselwirkungen die Behandlung im Zusammenhang mit der Seltenen Erkrankung haben könnte. So wird dann beispielsweise zur Sicherheit bei Zahnbehandlungen auf die Betäubung verzichtet oder auch etwas als „kleineres Übel“ erachtet und gar nicht behandelt.
  19. Einige Patienten bekommen auch unzählige Verbote, die das Leben total einschränken, wie z.B.: nicht fliegen, nicht fahren, nicht Fahrrad fahren, nicht schwimmen, kein Sport, nicht in die Berge, nichts heben, nicht mehr als x kg tragen usw.
  20. Es kann Probleme bei der Einstufung eines Schwerbehindertengrades (GdB) geben, da kaum Erfahrungswerte vorliegen und die GdB-Liste das spezielle Problem nicht beinhaltet.
  21. Falls ein Pflegegrad beantragt wird, hat der Gutachter meist keine Erfahrung mit dem speziellen Krankheitsbild.
  22. Ganz große Probleme haben betroffene Menschen, die intellektuell bzw. aufgrund ihrer Bildung nicht in der Lage sind, sich über ihre Erkrankung eingehend zu informieren und/oder sie zu erklären.
  23. Viele seltene Krankheiten sind genetisch bedingt. Erfahre ich, dass ich betroffen bin, stellt sich die Frage, ob ich damit auch eine Verantwortung meiner Familie gegenüber habe:
    • Wie weit sollte ich meine erwachsenen Verwandten aufklären, dass sie oder ihre Kinder betroffen sein könnten?
    • Wie eröffne ich so ein Gespräch? Nicht jeder möchte es vielleicht wissen….
    • Wie gehe ich mit meinen eigenen Kindern um, die – so sie gesund sind – die Krankheit vielleicht übertragen können?
    • Wie gehe ich mit meiner eigenen Kinderplanung um?
    • Wie gehe ich mit meinen ebenfalls betroffenen Kindern um?
  24. Und bei jedem neuen körperlichen Problem steht die Frage im Vorderergrund, ob das jetzt auch wieder ein Teil der Krankheit sein könnte.
  25. Einige seltene Erkrankungen machen auch einsam. Das Umfeld weiß mitunter nicht damit umzugehen und wendet sich deshalb ab.
  26. Auch langjährige Lebensgefährten und Ehepartner wenden sich manchmal ab.
  27. Die seltene Erkrankung selbst, verordnete Arzneimittel, Operationen und nicht zuletzt auch das beschädigte Selbstwertgefühl können das Liebesleben beeinträchtigen oder ganz zum Erliegen bringen.
  28. Dazu kommen die unwissentlichen Verletzungen von Menschen, die es eigentlich gut mit einem meinen. Die Frage „Bist du wieder gesund?“ mag keiner von uns hören. Wir werden nie wieder gesund sein!!! (Danke für den wichtigen Input, @sunnie.)
  29. Irgendwann kommt fast jede/r an einen Punkt, an dem er keine Ärzte, Untersuchungen und Arzneimittel mehr sehen kann. Dann werden wichtige Vor- und Nachsorgen ggf. nicht mehr wahrgenommen und Arzneimittel eigenmächtig abgesetzt,
  30. Letztendlich bedeutet „seltene Krankheit“ immer auch eine enorme psychische Belastung, die aus allen bisher genannten Punkten resultiert.

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3 Kommentare zu “Seltene Erkrankung – Was bedeutet das für den Alltag?

  1. Wenn man dann noch zusätzlich etwas alltägliches hat, wie nen kaputten Zahn, dann weiß mit einem mal keiner mehr wie der zu behandeln ist.
    OP’s werden ohne Vollnarkose gemacht und man bekommt unzählige Verbote, die einem das Leben total einschränken. (Nicht fliegen, nicht fahren, nicht Fahrrad fahren, nicht schwimmen, keine Sauna, nicht in die Berge, nicht Tauchen….)

    1. Danke Josi! 🙂

      Ich habe es gemäß meinen Erfahrungen leicht abgewandelt als Punkt 18 und 19 in die Liste eingefügt.

      Liebe Grüße
      Birgit

  2. Und wenn einem dann wegen Schwerbehinderung viele Praxen nicht zugänglich sind, die Behandlungen der seltenen Erkrankung wegen nicht kompatibler Ausstattung von Praxen/Kliniken und nur unter deutlich erhöhtem Personalaufwand, das natürlich behinderungsspezifisch ahnungslos ist, kaum bis notdürftig möglich sind, eine Anfahrt nicht mal eben drin ist… schaut man sehr, sehr sparsam.

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