TMF: „Deutschland darf in der Genommedizin nicht länger abseits stehen“
Die genomische Medizin entwickelt sich rasant: für die Therapiesteuerung von Krebserkrankungen und die Diagnose seltener Krankheiten ist sie von großer Bedeutung. Anlässlich des TMF-Workshops „Genomic Medicine in Europe – Blueprints for Germany” kamen am 27. Mai 2019 in Berlin mehr als 100 nationale und internationale Genomforscherinnen und -forscher in Berlin zusammen, um die Perspektiven der Einführung einer genomischen Medizin in Deutschland zu diskutieren. „Wir brauchen eine nationale Strategie zur Einführung der Genommedizin in Deutschland“, fordert Prof. Dr. Michael Krawczak, Vorstandsvorsitzender der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF e. V.). „Art und Umfang der genomischen Diagnostik in Deutschland sind im internationalen Vergleich nicht mehr zeitgemäß.“
Die Gesamtgenomsequenzierung (engl. Whole Genome Sequencing, WGS) erlaubt die Erkennung nahezu aller Veränderungen im menschlichen Genom. Durch die Sequenzierung des gesamten Genoms können in der Onkologie medikamentöse Therapien beispielsweise gezielt auf die genetische Beschaffenheit eines Tumors zugeschnitten werden. So eröffnen sich spezifischere und effizientere Behandlungsoptionen für die Patientinnen und Patienten.
Großbritannien führt Ganzgenomsequenzierung in die Regelversorgung ein
Nach sechsjähriger Erprobung im Rahmen eines 100.000 Genome umfassenden Pilotprojekts hat das Nationale Gesundheitssystem Englands die WGS jüngst als weltweit erstes Land in die genetische Routinediagnostik eingeführt. Ziel ist es, die dabei anfallenden großen Datenmengen für die Verbesserung der Krankenversorgung und die Entwicklung neuer Medikamente zu nutzen. „Aufgrund des enormen Potenzials für Forschung und Versorgung wird die Ganzgenomsequenzierung nun auf fünf Millionen Analysen ausgeweitet“, erläutert Prof. Tim Hubbard, Leiter der Genomanalyse des Genomics England Projects. Die hohe Auslastung der Infrastrukturen bringt Kostenvorteile: Während in Deutschland eine Teilsequenzierung des Genoms noch mit rund 2.300 Euro vergütet wird, liegen die entsprechenden Kosten in Großbritannien nur noch bei umgerechnet unter 1.000 Euro. Weitere Keynotes von renommierten Genomforschern aus europäischen Nachbarländern wie Frankreich, Schweden und den Niederlanden zeigen, wie Genommedizin erfolgreich und zum Vorteil der Patienten im Gesundheitssystem implementiert werden kann.
Neben den großen Erfolgen der maßgeschneiderten Krebstherapie bedeutet die WGS auch für die Betroffenen von seltenen Erkrankungen neue Chancen. Han Brunner vom Radboud UMC+ im niederländischen Nijmegen erklärte: „Tatsächlich sind seltene Erkrankungen in der Gesamtschau alles andere als selten. Allein in Deutschland sind mehr als fünf Millionen Menschen von einer der geschätzt mehr als 6.000 bekannten seltenen Erkrankungen betroffen.“ In der Diagnose seltener Erkrankungen könnten einer aktuellen Studie zufolge durch die WGS fast 30 Prozent der Betroffenen mit einer therapieleitenden Diagnose rechnen, wohingegen in der Kontrollgruppe nur knapp über sieben Prozent der Patientinnen und Patienten nach oftmals einer langen Odyssee einen treffenden Befund erhielten. Julia Wilkins von Imperial College Health Partners London stellte in Berlin neueste Zahlen zum Systemnutzen der WGS bei der Behandlung der seltenen Erkrankungen vor. So lägen aufgrund der hohen Aufwände für diagnostische Tests die Kosten vor einer Diagnosestellung fast um den Faktor 3 höher als danach.
Deutschland liegt im europäischen Vergleich weit hinten
Deutschland hinkt der europäischen Entwicklung in großem Abstand hinterher, mit erheblichen Nachteilen für Patientinnen und Patienten, Forschung und Wirtschaft. Genomexpertinnen und -experten, Patientenvertreterinnen und -vertreter, Kostenträger und Industrie sind sich hingegen einig, dass die Gesamtgenomsequenzierung mit den drei Säulen „Krebs“, „seltene Krankheiten“ und „Pharmakogenomik“ für die Diagnostik, Prävention und Behandlung von Erkrankungen im Sinne einer personalisierten Medizin zukünftig unabdingbar wird. Sie fordern deshalb im Rahmen des Workshops auch für Deutschland nicht nur eine Vergütungsreform und ein durchgreifendes Qualitätsmanagement für Genomsequenzierungen, sondern zugleich ein umfassendes Genommedizin-Programm, das sich an den Vorbildern der Nachbarländer orientiert. Als ein erster Schritt soll kurzfristig ein nationales Expertengremium gebildet werden, das Vorschläge für eine nationale Strategie für die Genommedizin unter Einbeziehung aller relevanten Stakeholder erarbeiten wird.
Standardisierung, zentrale Datenhaltung und Qualitätssicherung sind entscheidend
Prof. Dr. Hans-Hilger Ropers vom gastgebenden Max-Planck-Institut für molekulare Genetik fordert mit Blick auf die künftige Struktur einer genomischen Medizin im deutschen Gesundheitswesen, dass die Ganzgenomsequenzierung nach internationalem Vorbild auf wenige universitäre Standorte mit methodisch und technisch standardisierter Infrastruktur beschränkt werden müsse. „Nur so können wir eine Qualität und Kosteneffizienz erreichen, die internationalen Standards entspricht“, erklärt Ropers. „Weiterhin müssen die Daten in einer zentralen Datenbank gespeichert und verfügbar gemacht werden, die im Schulterschluss zwischen Forschung und Versorgung funktioniert. Das sind wir unseren Patienten schuldig.“
(pi Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V., TMF, 28.05.2019)