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Phenylketonurie – selten, gravierend und doch gut zu behandeln

Ein kleiner Pieks in die Ferse der erst zwei Tage alten Mia bewahrte sie vor einem Leben mit größten vor allem geistigen Einschränkungen: Die wenigen dem Mädchen im Rahmen des Neugeborenenscreenings abgenommenen Blutstropfen gaben im Labor den klaren Hinweis, dass sie unter einer Phenylketonurie leidet. Bleibt diese angeborene, auf einem Gendefekt beruhende Krankheit unbehandelt, führt sie zu einer schweren geistigen Entwicklungsstörung. Denn PKU-Patienten können den Eiweißbaustein Phenylalanin nicht abbauen. Dadurch reichern sich im Körper Nebenprodukte an, die das Gehirn dauerhaft schädigen. Deshalb müssen die Neugeborenen bereits in den ersten Lebenstagen auf eine Ernährung eingestellt werden, die möglichst wenig des Eiweißbestandteils Phenylalanin enthält. Selbst die Muttermilch gefährdet die gesunde Entwicklung des Gehirns.


Deshalb war es ein großes Glück für Mia, dass das mit ihren Blutstropfen getränkte Kärtchen im Speziallabor des Screeningzentrums Sachsen am Universitätsklinikum Dresden untersucht und die Diagnose ohne Umwege an Prof. Min Ae Lee-Kirsch übermittelt wurde. Sie leitet die Stoffwechsel- und PKU-Ambulanz der Kinderklinik und ist stellvertretende Sprecherin des UniversitätsCentrums für Seltene Erkrankungen. „Die Phenylketonurie ist eine der häufigeren seltenen Erkrankungen“, sagt Prof. Lee-Kirsch. Sie tritt ungefähr einmal auf 8.000 Neugeborene auf; dem Dresdner Uniklinikum werden jedes Jahr in der Regel zwei bis drei neue Patienten vorgestellt. Dank dieser Häufigkeit gibt es im Klinikum einen Erfahrungsschatz, der den Patienten bei der lebenslangen Betreuung zugutekommt. In der Regel werden die Patienten deshalb auch als Erwachsene in der Kinderklinik betreut. Der älteste PKU-Patient von Prof. Lee-Kirsch ist über 50 Jahre alt.

Mia wird sich ihr Leben lang eiweißarm ernähren müssen. Fast alles was Kindern besonders gut schmeckt, ist für Sie tabu: Schokolade, Wurst und Käse gehören ebenso dazu wie Brot und Nudeln. Denn auch Getreide enthält Eiweiß. Damit sich die kleine PKU-Patientin ungeachtet der Diät gut entwickelt, braucht sie trotzdem Aminosäuren, aus denen der Körper eigenes Eiweiß bildet. Insgesamt gibt es 20 dieser Bausteine – das für Mia gefährliche Phenylalanin ist nur eines davon. Die anderen 19 Aminosäuren müssen ihr so wie alle anderen PKU-Patienten zusätzlich zu den erlaubten eiweißarmen Lebensmitteln gegeben werden. Solange sich Mias Gehirn entwickelt – das passiert vor allem in den ersten beiden Lebensjahren – würde eine nicht eingehaltene Diät zu einer schweren geistigen Behinderung führen. Danach äußern sich hohe Phenylalanin-Werte im Blut vor allem in einer geringeren Leistungsfähigkeit des Gehirns mit Störungen der Konzentration und Merkfähigkeit.

In den ersten Lebensmonaten ihrer Tochter bedeutet die Phenylketonurie für Mias Eltern vor allem, jeden Tag genau zu berechnen, wieviel natürliches Eiweiß Mia zu sich nehmen darf. Dies bekommt sie als Muttermilch. Der restliche Eiweißbedarf wird durch die zusätzliche Gabe der 19 ungefährlichen und lebenswichtigen Aminosäuren gedeckt. Um die Ernährung genau anzupassen, muss die Menge des schädlichen Phenylalanins im Blut regelmäßig kontrolliert werden, in den ersten Lebenswochen bis zu dreimal wöchentlich. Deshalb kommen Mia und ihre Eltern wöchentlich in die Spezialambulanz. Im Rahmen dieser Termine werden die Eltern intensiv beraten – durch Diätassistentinnen zu Ernährungsfragen und vom Sozialdienst zu wichtigen Fragen im Alltag. Ein Thema kann die große finanzielle Belastung sein, die nicht nur durch die Fahrten ins Klinikum entstehen können, sondern vor allem durch die sehr teure eiweißarme Spezialnahrung, die es nur im Versandhandel gibt. Später kommen auch Psychologen ins Spiel, da viele Kinder und Jugendliche mit PKU darunter leiden, nie das essen zu können, was ihre Altersgenossen jeden Tag mit Genuss verspeisen.

Sich in jedem Moment des Lebens sehr genau an die strenge Diät zu halten, bleibt eine Herausforderung, die sich erheblich besser meistern lässt, wenn ein erfahrenes Team jederzeit ansprechbar ist. Dies leistet seit mehr als 20 Jahren die Spezialambulanz. „Ich empfinde große Freude, wenn ich Patienten sehe, die mit guten Noten die Schule abgeschlossen haben und auch die Berufsausbildung oder das Studium erfolgreich beenden. Das ist eine große Motivation für die weitere Arbeit“, sagt Prof. Lee-Kirsch. „Um auch bei anderen seltenen Erkrankungen so erfolgreich agieren zu können wie bei der Phenylketonurie, brauchen wir ein Team, dass sich auf die dafür notwendige Koordination der Abläufe konzentrieren kann und parallel Daten erhebt, um die Versorgung so effizient und erfolgreich wie möglich zu gestalten. Damit wollen wir auch die Basis für eine auskömmliche Finanzierung der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen schaffen“, sagt Prof. Reinhard Berner. Der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Dresdner Uniklinikums ist zugleich Sprecher des UniversitätsCentrums für Seltene Erkrankungen (USE).


Patienten mit seltenen Erkrankungen bedürfen häufig auch nach der Diagnose einer umfassenden, sehr aufmerksamen Betreuung. Um hier Behandlungspfade zu definieren und Daten als Basis für eine in Zukunft kostendeckende Finanzierung zu sammeln, beteiligt sich das Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden seit einem Jahr an dem bundesweiten Projekt „TRANSLATE NAMSE“. Mit den dafür bereitgestellten Geldern ist es erstmals möglich, zusätzliche Stellen zu schaffen, die die medizinische Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen koordinieren und dokumentieren. Bisher haben das Uniklinikum sowie andere Krankenhäuser der Maximalversorgung dies ohne finanzielle Unterstützung leisten müssen. Am Beispiel der Phenylketonurie (PKU) – eine der häufigsten angeborenen Stoffwechselstörungen und eine der wichtigsten Zielkrankheiten des Neugeborenen-Screenings – stellt die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin anlässlich des Internationalen Tags der Seltenen Erkrankungen die Herausforderungen vor, die mit einer kontinuierlichen wie effektiven Versorgung dieser Erkrankung verbunden sind. Darin eingebunden sind neben spezialisierten Ärzten vor allem Mitarbeiter der Bereiche Diätassistenz, Sozialdienst und Labormedizin. Der Fall einer Phenylketonurie unterstreicht zudem die besondere Bedeutung des Neugeborenenscreenings, das seit vielen Jahren im Screeningzentrum Sachsen – Träger sind die Uniklinika Dresden und Leipzig – sehr erfolgreich für alle Neugeborenen in Sachsen vorgenommen wird.

„Die Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen gehört naturgemäß zum Aufgabenspektrum eines Universitätsklinikums. Dass diese wichtige Aufgabe nun im Rahmen des Projekts TRANSLATE NAMSE erstmals finanziell unterstützt wird, ist ein positiver Anfang. Ungeachtet dessen ist es notwendig, dass die Uniklinika auch nach Ablauf der Förderung durch den Innovationsfonds dauerhaft eine adäquate Vergütung für diese besonderen Aufgaben erhalten“, sagt Prof. Michael Albrecht, Medizinischer Vorstand des Dresdner Uniklinikums.

UniversitätsCentrum für Seltene Erkrankungen (USE)
Das USE am Universitätsklinikum Dresden hat es sich zur Aufgabe gemacht, medizinische Expertise fachübergreifend zu bündeln und ihren Patienten mit seltenen Erkrankungen zur Verfügung zu stellen, um den Weg zur richtigen Diagnose zu verkürzen, eine kompetente Beratung sicherzustellen und Zugangswege zu bestmöglichen Therapien anzubieten. Im USE arbeiten Ärzte, nicht-ärztliches Personal und Wissenschaftler aus verschiedenen Kliniken und Instituten eng miteinander zusammen, um eine spezialisierte und koordinierte Diagnostik und Versorgung von Kindern und Erwachsenen mit seltenen Erkrankungen zu ermöglichen. In fachspezifischen und interdisziplinären Fallkonferenzen werden Patienten sowohl mit unklarer als auch mit bekannter Diagnose besprochen, um eine adäquate medizinische Versorgung einzuleiten. Die am USE beteiligten Zentren sind auch in der Forschung aktiv, um Krankheitsmechanismen besser zu verstehen und in Zukunft Patienten mit seltenen Erkrankungen innovative Diagnostik und Therapie anbieten zu können. Hierfür wurden am USE für Seltene Erkrankungen zunächst vier Schwerpunktbereiche definiert, in denen Diagnose, Therapie und Forschung eng verknüpft sind: Dies sind die Gebiete Immunologie, Autoinflammation, Autoimmunität und Infektionen; Neurologie und Psychiatrie; Endokrinologie und Stoffwechsel sowie Hämatologie und Onkologie.

(pi Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden, 27.02.2018)

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