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Ein Modell für Deutschland

Interessenübergreifende Analyse und Perspektive für die medizinische und pflegerische Versorgung

Silhouetten alter Menschen
Urheber: Gerd Altmann/AllSilhouettes.com / pixelio.de

„Ein derart umfassender Ansatz wurde erstmalig in Schleswig-Holstein versucht. Er hat Modellcharakter für das gesamte Bundesgebiet“, so Prof. Fritz Beske, Direktor des Fritz Beske Instituts für Gesundheits-System-Forschung Kiel (IGSF) über das vom Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein (MASG) unterstützte Projekt „Gesundheit und Pflege in Schleswig-Holstein – Interessenübergreifende Analyse und Perspektive“. Das IGSF war vom MASG beauftragt worden, die Versorgungslage Schleswig-Holsteins in den Bereichen Gesundheitsversorgung und Versorgung Pflegebedürftiger zu analysieren, Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen und Empfehlungen zu entwickeln. Das Projekt lief von September 2011 bis Februar 2012. Für die Durchführung hatte das IGSF einen Beirat berufen, der mit 19 Verbänden alle Gruppen umfasste, die in Schleswig-Holstein in den Bereichen Gesundheit und Pflege tätig sind: Heilberufe, Krankenkassen, Krankenhäuser, Pflegeverbände, Wohlfahrtsverbände, kommunale Landesverbände und Patientenvertreter.


Vom Beirat wurden sechs Arbeitsgruppen gebildet, in denen die wichtigsten Themen in 34 Sitzungen interessenübergreifend bearbeitet worden sind. Es wurden Defizite benannt und Perspektiven entwickelt. Die Arbeit der vom Beirat eingesetzten Arbeitsgruppen wurde insbesondere von zwei Leitgedanken bestimmt:

  1. Anerkennung finanziell und personell begrenzter Ressourcen und damit eindeutiger Realitätsbezug.
  2. Sicherstellung der notwendigen Versorgung in Gesundheit und Pflege mit Stärkung der regionalen Verantwortung, kooperative Versorgungsmodelle, Ehrenamtlichkeit und technische Lösungen.

Das Projekt hat zu drei grundsätzlichen Erkenntnissen geführt:

  1. Die Bevölkerung Deutschlands wird älter. Die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung und für die Betreuung Pflegebedürftiger werden deutlich steigen. Die ausschließliche Konzentration auf diesen Aspekt des demografischen Wandels wird den vielfältigen Problemen jedoch nicht gerecht. Dieses Projekt hat gezeigt, dass die Auswirkungen des demografischen Wandels auf Gesundheit und Pflege nahezu alle Lebensbereiche beeinflussen. Fragen zur Vereinbarkeit von Beruf und familiärer Pflege greifen in die Belange der Arbeitswelt ein. Die erforderliche Harmonisierung der Ausbildung betrifft alle Ausbildungswege. Die Bewältigung der Probleme erfordert kommunale Lösungen. Das gesamte Lebensumfeld der direkt und indirekt Betroffenen wird sich verändern.
  2. Dieses Projekt liefert den Beweis, dass gesellschaftliche Gruppen und Verbände in der Sicherstellung der Versorgung in Gesundheit und Pflege über die eigenen Interessen hinaus zusammenarbeiten können. Damit ist zu erwarten, dass erforderliche Veränderungen gemeinsam gegangen werden mit dem Ziel, die Versorgung unserer Bevölkerung in Gesundheit und Pflege dauerhaft zu sichern. Voraussetzung bleibt die Bereitschaft der Politik, die Arbeitsergebnisse dieses Projekts in ihre Entscheidungen einzubeziehen und auch gegen Bedenken einzelner Gruppen durchzusetzen.
  3. Das Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel leitet aus dem Ergebnis dieses Projekts den Vorschlag ab, die 19 im Beirat dieses Projekts vertretenen Gruppen und Verbände in die Weiterentwicklung, Präzisierung und Umsetzung der abgestimmten Empfehlungen einzubeziehen. Der Landesregierung wird empfohlen, ein Gremium einzurichten, das mit dieser Aufgabe betreut und auch mit Initiativrecht ausgestattet wird. Dieses Gremium kann beim Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit angesiedelt sein und „Gesundheits- und Pflegerat Schleswig-Holstein“ genannt werden.

Arbeitsergebnisse

Ausgangsbasis waren die Bevölkerungsentwicklung und Daten für die Entwicklung von Gesundheit und Pflege in Schleswig-Holstein und im Bund.

1. Bedarfsgerechte Versorgungsstrukturen in Schleswig-Holstein

Empfehlungen

  • Die überwiegend sektorenbezogene Leistungserbringung muss überwunden werden. Beispiele sind ambulante und stationäre medizinische Versorgung, Pflege und Rehabilitation.
  • Benötigt wird ein kommunal orientierter Versorgungsansatz, der die Patienten durch alle Leistungsbereiche führt. Die Kommunen sind deshalb in die regionale Bedarfsplanung einzubeziehen.
  • Kommunale Lenkungsausschüsse sollten ein regionales Sicherstellungskonzept entwickeln.
  • Erforderlich sind z. B. sektor-, fach- und berufsgruppenübergreifende Schwerpunktpraxen mit zentraler Lage in der Region.

2. Wohnortnahe hausärztliche Versorgung

Der demografische Wandel und ein verändertes Berufsverständis von jüngeren Ärzten und besonders von Ärztinnen führen dazu, dass die bisherige wohnortnahe hausärztliche Versorgung so nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Gefordert wird ein Ausgleich von Beruf, Familie und Freizeit. Hausärzte klagen über eine ausufernde Bürokratie, die sie mit zahlreichen Anfragen und Dokumentationspflichten belastet. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zum Beispiel sind mit für die hohe Zahl von Arztkontakten in Deutschland verantwortlich. Damit fehlt Zeit für den Patienten.

Empfehlungen

  • Von Unterversorgung bedrohte Gebiete benötigen Pilotprojekte, mit denen eine mobile, ortsungebundene hausärztliche Versorgung ermöglicht wird.
  • Verschlankung des Dokumentations- und Formularwesens, um Zeit für den Patienten zu gewinnen. Abschaffung der Praxisgebühr. Prüfung eines Modells mit Selbstbeteiligung, das sozial ausgewogen, an der Inanspruchnahme orientiert und bargeldlos ist.
  • Delegation ärztlicher Leistungen auf entsprechend fortgebildete medizinische Fachangestellte.
  • Einrichtung von Lehrstühlen für Allgemeinmedizin an den Standorten Kiel und Lübeck des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein.

3. Ambulante und stationäre Pflege in Schleswig-Holstein

Die Situationsanalyse in der Altenpflege ergibt:

  • Immer mehr Menschen werden alt und immer mehr alte Menschen werden pflegebedürftig.
  • Es gibt schon jetzt zu wenig Fachkräfte. Die Situation verschärft sich.
  • Das familiäre Pflegepotential geht zurück.
  • Die vorhandenen Fachkräfte leiden unter Bürokratisierung und zunehmender Arbeitsverdichtung.
  • Hohe Arbeitsbelastung und fehlende berufliche Gestaltungsmöglichkeiten führen dazu, dass Pflegekräfte heute im Durchschnitt schon nach acht Jahren aus dem Beruf ausscheiden.

Empfehlungen

  • Der Staat allein kann die notwendige Pflege nicht sicherstellen. Erforderlich sind dezentrale, kreative Pflegemodelle vor Ort.
  • Erforderlich ist die gemeinsame Ausbildung aller Pflegeberufe, so dass Fachkräfte und Pflegehelfer zukünftig sowohl in der Altenpflege als auch in der Kranken- und Kinderkrankenpflege tätig sein können.
  • Um Pflegekräfte länger im Beruf zu halten, müssen ihre Arbeitsbedingungen grundlegend verbessert werden.
  • Die Personalschlüssel müssen an gestiegene Versorgungsanforderungen angepasst werden.
  • Detaillierte Überprüfungen der Prozessqualität erzeugen in Pflegeheimen einen unvertretbar hohen Dokumentationsaufwand zu Lasten der Pflegekräfte und damit der Versorgung von Heimbewohnern. Im Vordergrund von Prüfungen muss die Ergebnisqualität stehen.
  • Weiterer Ausbau der Familienpflege durch das Engagement Dritter, z. B. Nachbarschaftshilfe.
  • Ausbau altersgerechter Wohnangebote mit barrierefreien Wohnungen, niedrigschwelligen Hilfs- und Beratungsangeboten.
  • Unterstützung pflegender Angehöriger durch flexible Arbeitszeit- und Teilzeitmodelle sowie Zeitkonten.
  • Besondere Unterstützung pflegender Angehöriger von Demenzkranken zum Beispiel durch Tages- und Nachtpflegeplätze, Kurzzeitpflegeplätze sowie durch Erfahrungsaustausch mit Experten wie Alzheimer- und Selbsthilfegruppen.
  • Einführung einer landeseinheitlichen IT-basierten Pflegedokumentation.

4. Telemedizin und elektronische Vernetzung in Gesundheit und Pflege

Es gibt in Schleswig-Holstein keine flächendeckende telematische Infrastruktur und kein zentral koordiniertes Konzept für eine telemedizinische und elektronische Vernetzung in Gesundheit und Pflege, sondern ausschließlich isolierte Insellösungen durch Initiative einzelner Gruppierungen. Die Telemedizin gewinnt jedoch an Bedeutung.

Empfehlungen

  • Einrichtung eines Landesgremiums „Telematik“ zur Koordinierung aller in Schleswig-Holstein vorhandenen und geplanten telematischen / telemedizinischen Projekte.
  • Begutachtung aller vorgesehenen Maßnahmen durch eine Projektgeschäftsstelle.
  • Landesweite Einführung der elektronischen Fallakte (eFA) als sektorübergreifende Kommunikationsplattform für fallbezogene klinische Daten.
  • Nutzung der Erfahrungen der Segeberger Kliniken mit der Erfassung von Vitaldaten und Ausweitung auf Schleswig-Holstein insgesamt unter Leitung des Segeberger Telemedizinzentrums. Nahziel: Einrichtung von zwei weiteren Zentren.

Zusammenfassung und Ergebnis der Projektarbeit

Wenn es mit den vereinbarten Strategien gelingt, die verantwortlichen Gremien, die Verbände und die Organisationen des Landes für das gemeinsame Versorgungsziel zu gewinnen, kann Problemen, die sich durch den demografischen und gesellschaftlichen Wandel ergeben, erfolgreich begegnet werden.

(Pressemitteilung des IGSF, 18.04.2012)

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